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AutorenbildKai Lautenschläger

Gedanken zu Wajechi

Im letzten Abschnitt des ersten Buches – Bereschit –, dem Buch über Familie und Beziehung, wird vom Tod zweier wichtiger Menschen berichtet. Ja'akob, der zu diesem Zeitpunkt auch schon Jisra'el genannt wurde, und sein Sohn Josef sterben und die Berichte über die ganz frühen Entstehungstage unserer Lehre kommen damit zu einem Ende. Danach beginnt das Leid und die Reise ins versprochene Land.



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Pietro Benvenuti (1769-1844) Jakobs Tod

Bleiben wir beim Personal: Joseph erlebt mit seinen Geschwistern, sowie Ja'akob, Jizchak mit ihren jeweiligen Geschwistern Brüderzwist in seinem Leben und in unserer heutigen Parascha findet er die Kraft zur Versöhnung. Es scheint fast ein roter Faden zu sein, dass die Familienbande – und auch unsere Geschichte als Gemeinschaft – zwar strapaziert oder sogar zerrissen werden können, aber nur Versöhnung deren Fortschreibung ermöglicht. Ohne Versöhnung und Aussprache trennen sich unweigerlich die Wege.


Aber ich möchte mein Augenmerk auf einen anderen besonderen Zusammenhang in Wajechi wenden. Zwei bedeutende Figuren, Ja'akob und Josef, Vater und Sohn, bilden den Spannungsbogen der Erzählung. Man möchte meinen, der eine führt des anderen Wirken fort. Und sicher liegen in dieser Sichtweise viele Antworten bereit. Was aber sind die Unterschiede zwischen Vater und Sohn, gibt es eine Entwicklung, ergibt sich für uns eine Lehre? Oder mindestens Hinweise?


Zunächst fällt auf, dass beide nicht Erstgeborene waren oder wegen anderer formaler Gründe Vorrang unter den Geschwistern genossen haben dürften. Dennoch bekleiden sie in der Erzählung der Thora beide hervorragende Stellungen. Beim genaueren Hinschauen wird auch klar, dass beide nicht unfehlbar waren und bisweilen moralisch fragwürdige Verhaltensweisen an den Tag legten, um ihre jeweilige Stellung als Familienoberhaupt zu erhalten und zu festigen. Auch haben beide durch Über- und Hochmut in der Jugend erhebliches Leid auf sich selbst gezogen (Flucht und Frondienst bei Ja'akob und Verschleppung und Versklavung bei Josef) und sind im Laufe ihres Lebens daran gewachsen.


Im Beginn von Wajechi wird klar, dass Ja'akob sich einiger seiner Fehler als Vater nicht wirklich bewusst ist, oder zumindest keine Versuche unternimmt, sich zu ändern. So finden wir weiterhin keinerlei Hinweis auf Dinah, die in der Toraerzählung "verlorene" Tochter, zum Beispiel beim Spenden des Segens. Diese Schwäche in seiner Vaterschaft wird nicht aufgelöst. Auch folgt er weiter seiner Gewohnheit der Bevorzugung eines Sohnes – nämlich Josefs, obwohl er die Gefahren eines solchen Verhaltens aus seiner eigenen Kindheit sehr gut kennt. Bei seinen Enkeln hält er sich erneut nicht an die damals als gerecht empfundene Reihenfolge der Segen. Nach seinem Tode werden die anderen Söhne ihm einen Auftrag an Josef in den Mund legen, der dafür sorgen soll, dass dieser sich mit den Brüdern versöhnt. Die Aufgabe in seiner Familie diesbezüglich für Frieden zu sorgen kommt also auch nicht von Ja'akob selbst, sondern von seinen Söhnen, die es aus Angst übernehmen.


Hat Ja'akob ein Gefühl für die Fehltritte und Unterlassungen in seinem Leben? Weiß oder ahnt er, dass seine Worte über den Moment hinaus wirken werden und deshalb scharfe Schwerter sind und auch Unheil anrichten können? Ist er überhaupt in der Zeit seines Sterbens am Leben der anderen interessiert? Er hat zuvor Josef den Schwur leisten lassen, ihn nach seinen Wünschen zu begraben. Aber was ist mit der Zukunft der anderen? Braucht nicht ein Enkel, der weniger günstige Aussichten im Leben hat vielmehr den Segen Gottes als der, der ohnehin auf der Sonnenseite zu stehen scheint? Was ist mit Ja'akobs Mitgefühl? Wir wissen es nicht. Aber die Fragen allein können schon beunruhigend sein, nicht wahr?


Josef hat, wie sein Vater, sein eigenes Fortkommen in seinen frühen und mittleren Jahren oft sehr klar im Blick (Umgang mit den Brüdern, unkritische Akzeptanz der Bevorzugung durch den Vater) gehabt und ein wechselreiches und gegensätzliches Leben gelebt: Vom Lieblingssohn zum Sklaven, vom Gefangenen zum Anführer, vom Hochmütigen Jugendlichen zum nachsichtigen Alten. Später gilt er als überragender Mann, der starken Willen, tiefe Hingabe, Begabung und Demut verkörpert (W. Gunther Plaut und Annette Böckler, 2016). Gegen Ende des Thoraabschnittes wird seine liebevolle, bedachte und weise Art immer deutlicher. Dies gipfelt in der Antwort אַל־תִּירָוּ כִּי הֲתַהַת אֱלֹהִם אָנִי׃ (Fürchtet Euch nicht! Bin ich denn an Gottes Stelle?), mit der er sich trotz seiner unbestrittenen Macht demütig Gottes Urteil unterwirft. Und im Gegensatz zu seinem Vater scheint er die Zukunft seiner Nachfahren deutlicher im Blick zu haben. Seiner Bitte um eine Beerdigung im versprochenen Land wirkt er, wie ein Schwur, der seinen Nachkommen Hoffnung geben soll, als die Sorge um das eigene Wohlergehen.


Was kann ich heute diesen Überlegungen entnehmen, was daraus lernen? Dazu kommen mir folgende Gedanken.

  • Menschliche Größe und Vorbildlichkeit bedürfen nicht unbedingt eines fehlerfreien Lebenswandels oder eines ebensolchen Charakters. Möglicherweise ist das sogar hinderlich. Wie so oft, bietet uns die Thora hier echte Menschen mit verschiedenen Seiten als Identifikationsfiguren an, die gerade durch ihre Menschlichkeit so gut nachzuempfinden sind.

  • Das Überkommen von schweren Zeiten wird hier auch als etwas beschrieben, das unsere persönliche Entwicklung fördert. Fast jede und jeder kennt das aus dem eigenen Leben. Aber das alleine scheint nicht für den ganzen Weg zu reichen. Es muss wohl auch ein gewisses Maß an Demut und Bescheidenheit hinzukommen, um aus die eigenen Verfehlungen als solche zu erkennen und dann auch aus ihnen zu lernen. Ja'akow scheint diesen letzten Schritt deutlich kürzer zu nehmen, als sein Sohn Josef.

  • Es freut mich zu sehen, dass Josef uns vorlebt, dass Änderung möglich ist und der Bezug auf Traditionen (Ausrichtung an den Werten des Vaters) nicht automatisch eine Rückwärtsgewandtheit bedeutet. Vielmehr müssen wir – so verstehe ich das – einerseits den Vorbildern unserer Eltern und Vorfahren nacheilen, aber dabei andererseits nicht zurückschrecken, uns auch über deren Beschränkungen hinaus zu entwickeln.

In diesem Sinne werde ich in Zukunft noch bewusster für meine Kinder wünsche, sie mögen werden, wie Josefs Kinder Efraim und Menasche. Und darüber hinaus. Schritt für Schritt.


Für mich selber sind diese Gedanken tolle Ansporne für meine eigene Entwicklung. Es passt ausgezeichnet zum Jahreswechsel des bürgerlichen Jahres, zu dem ich, wie viele andere, es irgendwie nicht lassen kann, mir doch das ein oder andere für das neue Jahr vorzunehmen.


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