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AutorenbildKai Lautenschläger

Gedanken zu Wajischlach

Aktualisiert: 7. Jan. 2023

Zusammenfassung | פָּרָשַׁת וַיִּשְׁלַח

10. Dezember 2022 – 16. Kislew 5783 8. Wochenabschnitt | Bereschit 32,4-36,43 In Paraschat Wajischlach versöhnt sich Ja‘akow mit Esaw, nachdem er mit einem "Mann" gerungen hat. Der Fürst Sichem vergewaltigt Dina, deren Brüder aus Rache die Stadt Sichem plündern. Auf der anschließenden Flucht der Familie bringt Rachel Benjamin zur Welt und stirbt im Kindbett.

Foto: Kämpfende Bisons
Foto © Richard Lee [Unsplash]

Die Parascha Wajischlach beinhaltet ein Wiedersehen der zerstrittenen Brüder Ja’akow und Esaw nach 30 Jahren. In der zweiten Alija bereitet Ja‘akow große Geschenke vor, um Esaw zu besänftigen, und lässt sie von seinen Dienern nacheinander mit der Botschaft an Esaw übergeben, dass sie „Geschenke seines Dieners Jakob“ seien. Er führt seine Frauen, Mägde, Kinder und Habseligkeiten über den Fluss Jabbok und bleibt allein zurück. In der folgenden Nacht ringt Ja’akow mit einer Figur, die in der Thora nur als „Mann“ bezeichnet wird. Der Kampf wird als erbittert geschildert und dauert bis zum Morgengrauen. Letzten Endes kann keiner der beiden gewinnen, der Mann verletzt Ja’akow schwer an der Oberschenkelsehne muss ihn aber bitten, ihn gehen zu lassen. Ja’akow erzwingt sich einen Segen durch den Mann und erhält zum ersten Mal den neuen Namen Jisra’el (isch-ra’a-el: der Gott sieht), denn er habe „mit Gott und den Menschen gerungen und sich durchgesetzt.“


In dieser Geschichte und ihrem Text in der Thora verbirgt sich eine schier unüberschaubare Anzahl von Fragen. Seit mehreren tausend Jahren haben sich gelehrte, weise, ungebildete, wohlwollende, bösartige, einsichtige und einfältigeMenschen an den Antworten abgearbeitet. Daraus sind viele lehrreiche, wunderbare und wundersame Midraschim, Erklärungen und Erläuterungen entstanden.


Ich stelle mir vor: Ja’akow ist ein mittlerweile sehr erfolgreicher, angesehener Mann mit großer Familie und Unternehmen. Wiederholt hat er gezeigt, dass er ein Talent dafür besitzt sich in problematische zwischenmenschliche Situationen zu bringen und bei deren Lösung gerne auch mal phantasievoll mit sozialen Regeln – wie Moral und Gerechtigkeit – umgeht. Vielleicht kann man ihn einen „Macher“ nennen. Er scheint nur sehr selten von Selbstzweifeln oder Unsicherheit befallen zu werden, sondern schlägt sich mit Selbstbewusstsein durchs Leben.


Jetzt steht er vor einer echten Herausforderung. Er tritt seinem Bruder gegenüber, von dem er weiß, dass er mit Männern (Soldaten?) auf dem Weg zu ihm ist, aber keine Ahnung hat, ob er ihm selbst noch böse ist. Er selbst hat ihn schließlich 30 Jahre zuvor um das Erstgeburtsrecht gebracht und musste fliehen. Auch Esaw war offenbar ein einflussreicher Mann und Anführer geworden. Das Treffen könnte also dramatische Wendungen bringen – für Ja’akow und seine ganze Familie.


Ich stelle mir weiter vor, dass Ja’akow den Rückzug in der Nacht vor dem wichtigen Treffen sucht, um sich über sein Vorgehen klar zu werden. Er kann nicht schlafen und muss sich schließlich mit seinen inneren Dämonen auseinandersetzen. Soll er, ein stolzer, gestandener Mann, um des Friedens willen unterwürfig handeln? Bestimmt wäre das für ihn keine leichte Übung, da er es vermutlich selten tut – sich demütig, schuldbewusst und unterwürfig zeigen. Wie kann er seine Haltung zeigen, ohne sie als schieren Schachzug wirken zu lassen – schließlich ist das Gegenüber sein Bruder, der ihn gut kennt. Wie kann er zeigen, dass er ein anderer Mensch geworden ist?


Für einen Mann, wie Ja’akow sind das beunruhigende Fragen. In meiner Vorstellung schlägt er sich damit bis in den frühen Morgen herum, kommt nicht zur Ruhe und fühlt sich am Morgen wie abgekämpft. Mindestens zwei Seiten in ihm haben miteinander die ganze Nacht gekämpft. Keine hat sich eindeutig durchgesetzt, sondern sie mussten sich irgendwie einigen. Das klingt genau, wie ein Konflikt im besten Falle enden sollte. Der neue Name symbolisiert in tiefsinniger Weise die neue innere Haltung, die aus der Einigung hervorgegangen ist. So kann er als anderer, neuer Mensch seinem Bruder entgegentreten und glaubhaft vermitteln, dass er seine sieben Verbeugungen sehr ernst meint, ohne sich als starken und selbstbewussten Mann zu verleugnen.


Mich erinnert dieses Erlebnis von Ja’akow daran, dass es wichtig ist, seine Gefühle und sein Denken immer wieder auf den Prüfstand zu stellen – gewissermaßen: sich seinen Dämonen stellen -, wenn ich einerseits Erfolg haben will und mich andererseits gute Wege gehen möchte. Und vielleicht gilt das besonders dann, wenn es um Einstellungen und Gefühle geht, die bei mir sehr stark ausgeprägt sind und deswegen auch schwierig zu hinterfragen.

Ja’akow hat mir vorgemacht, dass man sich diesem Kampf stellen kann und selbst wenn man dabei auch Verletzungen davonträgt, daraus als ein neuer, hoffentlich besserer Mensch – nämlich als Jisra’el – hervorgeht.


Zukünftig reicht also der Satz: „Denk‘ an Ja’akows Kampf!“ und ich weiß, dass es Zeit sein könnte, meine Überzeugungen und Handlungen zu überprüfen und in einer inneren Auseinandersetzung neue Haltung zu finden.


Welchen Kampf würdest Du in der Nacht mit dem „Mann“ in Dir momentan führen?


Ich wünsche uns allen innere Auseinandersetzung mit weniger drastischen Verletzungen als Ja’akow sie erlitten hat und hoffe für mich und Euch, dass wir mutig genug sind, dem Beispiel unseres Stammvaters in dieser Sache hin und wieder zu folgen.


Ich wünsche Euch Schabbat schalom!

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