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AutorenbildAndré Lang

Eröffnungsrede zur Gedenkveranstaltung am 2. März 2023 am Alten Leipziger Bahnhof

wir haben uns heute hier mit Ihnen versammelt, um jener Jüdinnen und Juden zu gedenken, die vor nunmehr 80 Jahren nach der Zwangsräumung des “Judenlagers Hellerberg“ zum Alten Leipziger Bahnhof gebracht wurden. Von hier aus, wo bereits über 1000 Jüdinnen und Juden aus dem gesamten Reichsgebiet in verdeckten Güterwaggons warteten, ging es direkt in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Dort erwartete sie ein grausames Schicksal. Nur 10 der 293 deportierten Jüdinnen und Juden aus dem damaligen „Judenlager Hellerberg“ überlebten.


Wie viele andere Zeugnisse der Verfolgung und Vernichtung der Dresdner Jüdinnen und Juden ist auch die Geschichte der Deportation vom 2. und 3. März 1943 weitgehend aus dem Gedächtnis der Stadt verdrängt worden. Sinnbildlich dafür steht der marode Zustand des Alten Leipziger Bahnhofs, dessen zentrale Rolle bei der Vernichtung der Jüdinnen und Juden nur wenigen in unserer Stadt bekannt ist.



Auf der Gedenkveranstaltung vor nunmehr einem Jahr haben wir deshalb vom Oberbürgermeister und der Kulturbürgermeisterin gefordert (ich zitiere wörtlich aus meiner damaligen Rede): „Dresden braucht eine dauerhafte Gedenk- und Begegnungsstätte für die Opfer der Shoa am Alten Leipziger Bahnhof. Nicht irgendwann - jetzt!


Wir fordern Sie auf, sofort mit den konzeptionellen Arbeiten zu beginnen und 2023 mit den notwendigen Baumaßnahmen zu starten.

Lassen Sie uns spätestens im Jahr 2025 - 80 Jahre nach der Befreiung Deutschlands vom Hitlerfaschismus - gemeinsam die dann fertiggestellte Gedenk- und Begegnungsstätte am Alten Leipziger Bahnhof einweihen.“


Und heute, was haben wir gemeinsam erreicht, was ist jetzt dringend notwendig?

  • Im April 2022 haben wir den Förderkreis Gedenk-, Begegnungs- und Lernort Alter Leipziger Bahnhof gegründet, dem u.a. die Spitzen der Stadtverwaltung und der Jüdischen Gemeinden Dresdens angehören.

  • Der Oberbürgermeister hat sich zur Verwirklichung des Projektes bekannt und die notwendigen finanziellen Mittel in den nächsten Doppelhaushalt eingestellt.

  • Das Dezernat für Kultur, Wissenschaft und Tourismus hat in der ersten Hälfte des vergangenen Jahres mit den Jüdischen Gemeinden, Initiativen und Vereinen sowie uns als Förderkreis einen umfangreichen Diskussionsprozess über mögliche Inhalte des zu schaffenden Zentrums geführt.

  • Der mögliche zukünftige Grundstückseigentümer Sachsenenergie hat mit einer ersten Planungsstudie zur baulichen Gestaltung der jetzigen Ruine den Diskussionsprozess positiv befördert.

  • Das Verkehrsmuseum hat erste konzeptionelle Vorstellungen zur Außengestaltung des Platzes entwickelt.

  • Als Ergebnis dieser Diskussionen liegt nun eine Vorlage für den Stadtrat zur Entscheidung am 23. März 2023 vor.

  • Das ist zwar nicht ganz das Tempo, das wir vor einem Jahr gefordert haben, aber immerhin ist es vorangekommen.


Aus unserer Sicht ist es jetzt notwendig:

  • Die Beschlussfassung der Vorlage durch den Dresdner Stadtrat am 27. März [Anm. d. Red.: ist geschehen.]

  • Die Beauftragung einer Expertengruppe zur inhaltlichen Ausgestaltung des zu schaffenden Zentrums, die vom Oberbürgermeister im April berufen wird und uns bis Juli ihre Arbeitsergebnisse zur Diskussion vorlegt

  • Nach Vorliegen des Stadtratsbeschlusses muss sich die Verwaltung umgehend mit der Frage beschäftigen, wer nach Fertigstellung Betreiber dieses Zentrums sein wird; hier sollte - nach einer sicherlich notwendigen Ausschreibung - bis Oktober dieses Jahres Klarheit geschaffen werden.

  • Parallel zu diesen Aktivitäten sollte von der Stadtverwaltung gemeinsam mit dem zukünftigen Grundstückseigentümer ein Architektenwettbewerb zunächst für den Wiederaufbau der Bahnhofsruine und des zweiten Kopfbaus ausgelobt und durchgeführt werden. Erste Ergebnisse eines solchen Wettbewerbs könnten dann - aus unserer Sicht - im September dieses Jahres zur Begutachtung und Diskussion vorliegen.

  • Die Eigentumsverhältnisse des Geländes sind unter Federführung der Stadtverwaltung mit dem jetzigen Eigentümer GLOBUS und einem möglichen zukünftigen Eigentümer wie der SACHSENENERGIE oder einem anderen städtischen Unternehmen zügig zu klären.



An die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung - insbesondere an die Kulturbürgermeisterin Frau Klepsch und den Baubürgermeister Herrn Kühn - richten wir folgende Bitte:

Und - bitte antworten Sie mir nicht mit „Ja, das ist alles richtig, Herr Lang, aber ... die Verwaltungsabläufe lassen ein solches Tempo - wie Sie es fordern - nicht zu...“. Ich antworte klar und deutlich: Nein, wenn wir es alle wirklich, wirklich wollen (und darin steckt das Wort WILLE), dann sollten wir uns am 80. Jahrestag der Befreiung hier an diesem Ort, zumindest an der im Rohbau fertiggestellten Gedenk-, Begegnungs- und Lernstätte, gemeinsam versammeln. Dann können wir optimistisch auf das Jahr 2026 blicken, in dem wir gemeinsam die Eröffnung feiern wollen.


Lassen Sie mich noch einmal aus meiner Rede vom letzten Jahr zitieren, die auch heute noch Gültigkeit hat:


„Wir von Herz statt Hetze sind bereit, Sie (die Stadtverwaltung) im Rahmen unserer Möglichkeiten dabei tatkräftig zu unterstützen. Wir werden Sie und Ihre Mitarbeiter jedoch nicht in erster Linie an Ihren Reden zu offiziellen Gedenktagen messen - so notwendig diese auch sind. Vielmehr betrachten wir Ihre konkreten Taten zur Schaffung dieser von uns - und auch von den gewählten Stadträten - geforderten Gedenk- und Begegnungsstätte Alter Leipziger Bahnhof“.



Und noch einen ergänzenden, aktuellen Vorschlag wollen wir heute Abend einbringen:

Wir möchten dieses Erinnerungs- und Begegnungszentrum für die Dresdner*innen bereits heute erlebbar machen. Deshalb schlagen wir vor, eine Veranstaltungsreihe ins Leben zu rufen, die bis zur Fertigstellung jährlich in den Monaten Mai bis September unter dem Titel „Erinnern - Bilden - Begegnen am Alten Leipziger Bahnhof“ stattfinden soll.


Künstler*innen, Schüler*innen, die jüdischen Gemeinden, zivilgesellschaftliche Initiativen, die demokratischen Parteien und Stiftungen wollen wir für diese Veranstaltungen gewinnen.


Wir sind überzeugt, dass wir dabei die tatkräftige - auch finanzielle - Unterstützung der Stadtverwaltung erhalten werden. Wir würden uns sehr freuen, wenn auch die Sächsische Landesregierung unser Projekt insgesamt, sowie diese heute vorgeschlagene Veranstaltungsreihe - die ja auch ein Bildungsprojekt für Schüler*innen ist - unterstützen könnte.


Gestatten Sie mir, liebe Anwesende, eine ganz persönliche Bemerkung:

Wenn man heute hier am Alten Leipziger Bahnhof steht, versucht man sich vorzustellen, was in diesen Menschen, Jüdinnen und Juden aller Altersgruppen aus Dresden und dem Reichsgebiet, vorging, als sie in die Güterwaggons getrieben wurden.


Auch 80 Jahre danach ist es unvorstellbar, dass - organisiert von Gestapo, SS und Polizei, unterstützt von der damaligen Dresdner Stadtverwaltung und der Deutschen Reichsbahn - diese Menschen den Weg in den Tod antreten mussten.

Es war auch die Mehrheit der Dresdner Bevölkerung, die der immer weiter eskalierenden Judenverfolgung tatenlos zusah. Auch diese Tatsache gehört zur Erinnerung an diese schreckliche Zeit.


Die meisten von uns, die wir heute hier versammelt sind, haben das Glück, nach der Befreiung Deutschlands vom Hitlerfaschismus geboren zu sein. Das entbindet uns alle aber nicht von der Verantwortung, heute und in Zukunft immer wieder daran zu erinnern, was damals geschehen ist.


Erinnern wir uns kurz:

Im Wahlkreis Dresden - Bautzen stimmten bei der Reichstagswahl 1933 (bei einer Wahlbeteiligung von 90,3 %) 43,6 % der Sachsen für die NSDAP.


Und heute?

Bei der letzten Bundestagswahl 2021 erreichte die AfD in Sachsen einen Stimmenanteil von 24,6%. Für die Landtagswahl 2024 sehen Wählerumfragen die AfD bereits vor der CDU.

Da marschiert PEGIDA nun schon im 8. Jahr durch Dresden, da laufen Neonazis und ihre Anhänger immer noch am 13. Februar mit ihrem unsäglichen Opfermythos und gemeinsam mit Holocaustleugnern durch Dresden. Da kann unter Missbrauch der Solidarität für Kriegsopfer und Flüchtlinge aus der Ukraine der vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestufte Neonazi Höcke auf dem Dresdner Theaterplatz seine Hetze verbreiten.


Ja, wir wissen auch, dass nicht jeder, der AfD wählt, ein Nazi ist. Aber diesen braunen Rattenfängern hinterherzulaufen und ihnen die Stimme zu geben, heißt, wirklich nichts, aber auch gar nichts, aus der Geschichte des Dritten Reiches gelernt zu haben.


Wir von HERZ STATT HETZE wollen und werden gemeinsam mit unseren Freund*innen diesen Leuten nicht die Straßen und Plätze unserer Stadt überlassen.

Und wenn dafür ziviler Ungehorsam notwendig ist, dann sind wir ohne Gewalt und friedlich dabei. Deshalb habe auch ich als alter Dresdner Jude und Antifaschist mit meinen Freund*innen am 13. Februar dieses Jahres auf dem Pirnaischen Platz gesessen und mit unserer Sitzblockade den Marsch der Rechten durch das Dresdner Stadtzentrum erfolgreich verhindert.


Meine politisch und rassistisch verfolgten Eltern und Großeltern konnten dank der Solidarität der Menschen, die sie unterstützten, noch 1937 nach England emigrieren. Nach der Befreiung Deutschlands durch die Alliierten glaubten sie an ein besseres Deutschland und kehrten 1946 mit mir und meiner Schwester nach Dresden zurück. Unvorstellbar für meine Eltern, dass sie noch erleben müssten, wie in Deutschland wieder eine rechtsextreme Partei von so vielen Menschen gewählt wird.

Den Menschen, derer wir heute gedenken, war vor 80 Jahren der rettende Weg ins Ausland versperrt. Sie mussten den Weg in die Vernichtungslager der Nazis antreten. Und deshalb wiederholen wir unsere Forderung: Dresden braucht - 80 Jahre danach - endlich einen würdigen Ort des Gedenkens an die Opfer der Shoa!


Als Angehörige der zweiten Generation der jüdischen Überlebenden des Holocaust, möchte ich, dass das Schicksal der Millionen politisch und rassistisch Verfolgten und Ermordeten - zu denen auch meine Familie gehört - niemals in Vergessenheit gerät.


Vor allem damit die jungen Generationen immer wieder erfahren, was Faschismus, Antisemitismus und Rassismus für die Betroffenen bedeutet, brauchen wir - 80 Jahre nach den schrecklichen Taten - diese Gedenk- und Begegnungsstätte am Alten Leipziger Bahnhof.


Das Schicksal meiner Familie und vieler Leidensgefährten verpflichtet mich, gemeinsam mit meinen Freunden aktiv daran mitzuwirken.

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