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Jakob Lindenthal

Mut machen

Beitrag zum Schreibwettbewerb “Mut machen” der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung, 2023


2023 hat die Sächsische Landeszentrale für Politische Bildung (SLPB – evtl. von den Wahlforen bekannt) einen Schreibwettbewerb ausgerufen, bei dem unter dem Motto „Mut machen“ Ehrenamtliche von ihrer Tätigkeit berichten konnten. Gestern habe ich erfahren, dass ich dort den zweiten Preis gewonnen habe. Das Preisgeld kommt dem Garten und der Dachabdichtung unseres Gemeindehauses zugute.


Der Text ist eine kurze Episode aus der ehrenamtlichen Arbeit in der Besht-Yeshiva. Nach einem Studienaufenthalt in Haifa, Israel habe ich zufällig von dem damals von Akiva und Rosa neu gegründeten Projekt gehört und mit der Yeshiva Kontakt aufgenommen. Seither habe ich vielfältige Aufgaben übernommen (technische Planung und Umsetzung, Coaching, Sprachtraining) und mir bereitet es am meisten Freude, junge Menschen darin zu unterstützen, selbstbestimmt ihren Weg zu finden und ihr Leben eigenständig zu gestalten. Der Text ist nicht perfekt und frei von Urteil, sondern spiegelt die Eindrücke und Gefühle, die ich bei meinen Aufgaben erlebe. Wenn wir etwas für andere tun, schwingt darin auch immer mit, wer wir selbst sind.


Momente von Heimat

Shmuel und ich stapfen durch den Regen. Das Kopfsteinpflaster glänzt matt, ich schiebe meine Fahrrad neben Shmuel her, während wir uns der Turnhalle nähern. "Yesh'cha gam ofanayim? (Haste auch'n Fahrrad?)", frage ich ihn mit dem umgangssprachlichen Hebräisch, das ich bei der ehrenamtlichen Arbeit in der Besht-Yeshiva der Neustädter jüdischen Gemeinde gelernt habe. Shmuel lacht. Er und seine Kollegen freuen sich, wenn wir etwas von ihnen lernen. Wir lernen viel von ihnen, aber eigentlich sind vor allem sie zum Lernen hier. Die meisten Mitglieder des liberalen Kulturzentrums Besht Yeshiva kommen aus ultraorthodoxen jüdischen Gemeinden, in denen ihr altes Leben von religiösen Regeln und strikten sozialen Normen bestimmt war. Um dort auszubrechen, braucht man Intelligenz, einen eigenständigen Geist und den Drang, selbstbestimmt zu leben. Das alles hat Shmuel. Heute trägt er eine Jogginghose und ein Muskelshirt, inakzeptabel für einen respektablen orthodoxen Juden, aber das richtige Outfit für das erste Akrobatik-Training, zu dem ich ihn begleite. Manchmal ist Shmuel ein Chaot. Er hat tausend Ideen, aber oft keine Vorstellung, wie man sie realisiert. Er ist schlau, witzig, ein Showmaster. Letzte Woche hat er mich gefragt, ob ich wüsste, wie man Rennfahrer wird. Er hat Lust auf das Adrenalin, die Konzentration auf den Moment. Rennfahrer kenne ich nicht, aber ich kenne eine Akrobatin. Sie hat uns die Informationen zum Training gegeben und Shmuel hat mich gefragt, ob ich ihn das erste Mal begleite. Es ist nicht so einfach, wenn man als Kind und Jugendlicher in ein religiöses Gefängnis eingesperrt war und dann in einer neuen Umgebung mit neuen sozialen Regeln und einer neuen Sprache Fuß fassen soll. Die meisten ehemaligen Ultraorthodoxen fühlen sich unsicher, aber sie sind auch sehr mutig und versuchen, das Beste aus der neuen Welt um sie herum zu machen. Als wir in die Turnhalle kommen, geht Shmuel voran. An der Tür dreht er sich kurz zu mir um, schaut unsicher zurück. Ich gehe kurz mit in die Halle, wir sprechen einen der Akrobaten an. Shmuel ist schnell in ein Gespräch verwickelt, er und die Turnerinnen und Turner lachen gemeinsam. Ich sage ihm Tschüß und gehe hinaus. Ich bin stolz auf Shmuel und ein bisschen ängstlich, ein bisschen wie der Papa, der zum ersten Mal sein Kind im Kindergarten abgegeben hat. Nachher erzählt mir Shmuel, dass das Training fantastisch war. Manchmal braucht es nur ein paar Informationen und eine kleine Wegstrecke an Begleitung und Halt, damit man sich auf neues Terrain vorwagt. Als Freiwillige in der jüdischen Gemeinde können wir die Welt nicht von Grund auf verändern, aber wir können unsere Kontakte und unser Wissen über den ganz gewöhnlichen Dresdner Alltag nutzen, um Türen zu öffnen, die Shmuel und andere Menschen wie er dringend brauchen. Wenn sie einmal erfolgreich Neuland in ihrer neuen Lebensumgebung betreten haben, werden sie es wieder und wieder wagen. Und dann werden aus Neuland immer mehr Momente von Heimat, in denen sie sich sicher fühlen und die sie selbst gestalten. Dieser Abend ist so ein kleiner Schritt ins Neuland und wird einmal einer der vielen Mosaiksteine an warmer Erinnerung sein, die Heimat ausmachen.

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