Am 09.08.2022 veröffentlichte die Welt (Online-Ausgabe) den Beitrag der Kantorin Avitall Gerstetter “Warum die wachsende Zahl der Konvertiten ein Problem für das Judentum ist”. Daraufhin wurde Frau Gerstetter von der Gemeinde Oranienburger Straße „freigestellt“ (Welt-Online, 19.08.2022). Wer Avitall Gerstetter in die Suchmaschine Google eingibt (Filter: “letztes Jahr”), erhält schnell einen Überblick über die heftigen Reaktionen, die ihr Beitrag auslöste. Im Kern geht es um die Frage "Wer ist Jude? Hier der Brief an einen jüdischen Freund - als meine Antwort auf diese Frage:
Lieber Freund,
ich werde mich hüten darüber auszulassen, wer halachisch Jude ist. Zumal ich weiß, dass da bereits die Meinungen auseinandergehen. Auch arbeite ich zusammen mit Konvertiten, die ich - wegen ihres Engagements - sehr schätze. Und doch gibt es einen großen Unterschied zwischen "denen" und mir (und Dir).
Wie Du weißt, wurde ich in eine jüdische Familie hineingeboren. Dazu gehörte auch die winzige Jüdische Gemeinde in Dresden, die sich vor allem als Schicksalsgemeinschaft verstand: die Schreiers aus Meißen (Du wirst Dich an sie erinnern), der Eschwege, die Aris' ....
Alle diese Menschen hatten wenig bis gar kein Interesse an Religion.
Und doch: Sie feierten gemeinsam z. B. Pessach/Seder. Das ist die Geschichte unserer Vorfahren, Eltern, Familien, Freunde: Aus der Unterdrückung in die Freiheit! Der Auszug aus Ägypten ist so zentral im Gedächtnis der meisten Juden, dass unter allen Umständen daran erinnert wurde:
Vor Pessach im Jahr 1944 fragten Häftlinge in Bergen-Belsen einen mitgefangenen Rabbiner, was zu tun sei, wemm kein ungesäuertes Brot verfügbar ist.
Die Antwort des Rabbis (Da ich kein Hebräisch kann, muss ich mich auf eine Fremd-Übersetzung verlassen): Vor dem Essen von Chamez soll man mit tiefer Hingebung sagen: Vater im Himmel, unser Wunsch ist, zu Pessach Mazze zu essen und das Verbot des gesäuerten Brotes einzuhalten […] Aber wir sind gezwungen gesäuertes Brot zu essen […], weil uns die Sklaverei hindert und wir uns in tödlicher Gefahr befinden.
Diese Beispiele, die zur Geschichte unserer Familien und/oder ihrer engsten Freunde gehören, mit denen wir (ungefragt) aufgewachsen sind, unterscheiden uns von den Konvertiten. Für sie kann Pessach nicht mehr sein als ein Brauch, der nach Ritualen begangen wird - egal, wie viel sie über die Hintergründe wissen und wie viel Mühe sie sich geben. Es ist nicht ihre Geschichte.
Jude zu sein, ohne jüdischen Hintergrund, hat Konsequenzen. Dafür zwei Beispiele:
Nach der Verlesung der Namen von Ermordeten und den Orten ihrer Ermordung spricht ein Konvertit das Kaddisch. Welche Beziehung hat der dazu? Ist das mehr als eine formale Deklamation? Jude zu sein, nicht jüdischer Herkunft zu sein, hat Konsequenzen. Zwei Beispiele dafür:
Nach dem Verlesen der Namen der Ermordeten und der Orte, an denen sie ermordet wurden, spricht ein Konvertit das Kaddisch. In welchem Verhältnis steht er dazu? Ist das mehr als eine formale Deklamation? Im Gegensatz zu uns: Es werden Orte genannt, an die wir uns seit unserer Kindheit erinnern, wenn wir nach unseren Verwandten fragen.
Ein weiteres Beispiel: Ein Konvertit erhielt bei seinem Übertritt zum Judentum den religiös-jüdischen Namen “Schlomo [Salomon]”. Diesen Namen verwendet er als “Künstlernamen” (anstelle seines bürgerlichen Namens Sigurd) bei seinen Reportagen für einen freien Dresdner Radiosender. Das berührt mich unangenehm: Mit dem Namen Schlomo stellt er sein (erworbenes) Judentum zur Schau. Erhofft er sich dadurch mehr Aufmerksamkeit? Diese erhoffte Wirkung setzt den Holocaust voraus. Erst seitdem erfährt alles, was jüdisch klingt, in Deutschland besondere Aufmerksamkeit.
Aber es gibt Erfahrungen und Empfindsamkeiten, die kann man auch nicht durch Fleiß und Hingabe erwerben.
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