Man kann nicht über den 9. November sprechen, ohne persönlich zu werden. Wenn ich mich hier zur Bedeutung dieses Datums äußere, dann ist damit auch klar, dass ich nicht „für die Gemeinde“ sprechen kann. Denn dieses Datum ist mit vielen unterschiedlichen, tiefen und persönlichen Gefühlen verbunden.
Bald ist der 9. November, und wir alle wissen, dass uns dieser 9. November in den letzten mehr als 150 Jahren in Deutschland an Glück und Erfolg, aber auch an Entmenschlichung und Schande erinnert. Und das macht diesen Tag auch für uns als Jüdinnen und Juden zu einem besonderen Datum.
Nicht nur, dass sich 1938 die Reichspogromnacht explizit gegen Jüdinnen und Juden richtete, dass 1969 ein Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin-Charlottenburg nur durch Glück scheiterte, sondern auch Dresdner Ereignisse wie der Spatenstich und die Einweihung der Neuen Synagoge Dresden in den Jahren 1998 und 2001.
In den Medien und Diskussionen wird die schicksalhafte Bedeutung des 9. November für Deutschland hervorgehoben. Wir Jüdinnen und Juden kennen diese Widersprüchlichkeit innerhalb eines Begriffes oder eines Datums seit langem. Im Brauchtum scheint sie uns zur zweiten Natur geworden zu sein. An einem der hoffentlich glücklichsten Tage im Leben eines Menschen - der Hochzeit - feiern wir ausgelassen und erinnern doch im Moment des größten Glücks durch die Scherben eines zerbrochenen Glases an die Zerstörung des Tempels und die damit verbundene Zerknirschung. Ein anderes Beispiel betrifft nicht nur Juden und Jüdinnen, sondern auch Christen und Muslime. In der Thora, der Grundlage dieser drei monotheistischen Religionen, gibt es viele Erzählungen und Beschreibungen von Helden und Schurken. Aber anders als in vielen weltlichen Geschichten und auch anders als in späteren religiösen Schriften werden in der Tora die guten und schlechten Eigenschaften des Menschen, Glück und Verdammnis oft nicht auf verschiedene Personen verteilt. Der gute Prophet und der böse Dieb, der glückliche Fromme und der verfluchte Frevler. Nein, unser gemeinsamer größter Prophet Mosche - Moses - erscheint bei seiner ersten Erwähnung als rachsüchtiger Totschläger. Kann das wirklich wahr sein? Auch später - um bei Mosche zu bleiben - macht er immer wieder Fehler und muss mit Gott ringen. Wie spreche ich jetzt über Mosche? Wo soll das hinführen?
Ich werde es erklären: Genauso wie wir unser Judentum und unsere Lehre wahrscheinlich viel weniger verstehen und noch weniger authentisch leben könnten, wenn wir uns nur auf die Stellen in unserer Tora (und anderen Schriften) konzentrieren würden, die widerspruchsfrei sind. Genauso würden wir uns beschränken, wenn wir versuchten, den 9. November in unserer jüdischen und auch deutschen Geschichte auf eine Seite zu reduzieren. Glück oder Leid, Vorbild oder Schuld.
Nein, gerade diese Widersprüchlichkeit sagt uns etwas über unsere gemeinsame jüdische und persönliche Vergangenheit, über unsere Gegenwart und mit etwas Anstrengung und Gottes Hilfe auch über unsere Zukunft. Wir sind und waren all das: glücklich und schuldig, mutig und selbstsüchtig, tapfer und verzagt. Wir Juden - wir Deutsche - wir Menschen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es keinen Grund gibt, sich über die Bedeutung des 9. November zu einigen oder zu streiten, sondern dass wir versuchen sollten, die verschiedenen Aspekte wie in einem Prisma sichtbar zu machen.
Deshalb ist es uns in der JKD auch das ganze Jahr über so wichtig, dass das Erinnern an das Leid und das Feiern des Glücks - zum Beispiel über unsere wunderbare Synagoge in der Neustadt oder über den wachsenden Gemeindegarten - sich nicht widersprechen, sondern dass beides zu diesem Tag und zu unserem Leben gehört. So können wir lernen, weder hochmütig den Schmerz zu verdrängen, wenn wir glücklich sind, noch verzagt im Jammer zu versinken, ohne dem Glück eine Chance zu geben.
Deshalb werden wir am 9. November sowohl des Schmerzes gedenken als auch die Siege feiern. Wir sind noch da, unsere WidersacherInnen haben es nicht geschafft, ihren Ausrottungsplan zu verwirklichen. Und wir stehen auf den Schultern unserer Vorgänger, auch der Opfer unter ihnen. Ihr und unser Leid hat uns die Bedeutung vieler Widersprüche im Judentum gelehrt, nicht zuletzt die Bedeutung des Zusammenhalts bei gleichzeitiger Pflege der Vielfalt. Diesen Spagat spüren wir heute ganz besonders. Ich lade Euch alle herzlich ein, diese und andere Widersprüche weiter zu tragen und unsere in der Tradition verwurzelte Gemeinschaft zusammen in die Zukunft zu entwickeln.
Auch für diejenigen unter uns, die historisch nicht bewandert sind, lädt uns der 9. November als Jüdinnen und Juden, als Deutsche und als Menschen ein, ins Gespräch zu kommen, den Austausch zu finden und die verschiedenen Aspekte dieses schicksalhaften Datums noch tiefer zu verstehen. Nur was wir verstehen, können wir nutzen, um eine bessere Zukunft für uns alle zu gestalten.
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